Carreau Clemenceau: eine 100 Jahre alte Erdölmine

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Zwischen den Zeiten – Spiegelungen im Magazin der Mine Clemenceau. – Wie alle Fotos hier: (C) Petra van Cronenburg – mit freundl. Genehmigung der ComCom Sauer-Pechelbronn

Und sie bewegt sich doch, die Erde …

Ich parke mein Auto vor einer leerstehenden Fabrikhalle zwischen den Zeiten. Sie liegt auf einem Gelände, das zum nordelsässischen Preuschdorf gehört, einem Nachbardorf des berühmten Erdöl-Ortes Merkwiller-Pechelbronn. Solange ich denken kann, war hier eine Autowerkstatt; länger, als ich denken kann, diente die Halle als Magazin für das Material einer Erdölmine. Leicht verblichene Zettel mit Zitaten von einer Kunstaktion künden von einer möglichen Zukunft für das französische Erdölmuseum von Pechelbronn. Der Termin erfüllt mich mit aufgeregter Vorfreude und Spannung.

Obwohl ich vor Jahrzehnten noch viele Plätze elsässischer Erdölgeschichte privat betreten konnte, weil sie damals weder abgesperrt noch genauer untersucht waren, ist mir dieser immer versperrt geblieben: zu gefährlich oder privat genutzt, stets eingezäunt. Jetzt sind zumindest die neu angelegten Wege gesichert und das Gelände wird vom Erdölmuseum genutzt: Ich bekomme eine Führung durch das Areal der ehemaligen Mine Clemenceau, das insgesamt etwa zwei Hektar groß ist. Wo wir laufen, wurden früher die Loren auf Schienen aus den unterirdischen Galerien gezogen.

Trotz des viel zu heißen Dürresommers wirkt die Industriebrache erstaunlich grün. Kaskaden von Blättern winden sich in die Höhe, durchbrechen Öffnungen, fallen vor Schwere herab. Es ist der Baumwürger, der Mauerbrecher Efeu, der den großen Eroberer gibt. Sonnenhungrige Scheinakazien schießen dazwischen hoch, sogar unverwüstliche Buchen. Letztere stehen etwas schwachbrüstig im für die Region ungewöhnlichen sandigen Boden. Genauso wie unser Ziel, der Terril I – auf Deutsch weniger elegant die „Abraumhalde 1“ – besteht dieser Boden aus dem, was einst unter der Erde steckte.

Ein alter Schacht und eine Abraumhalde

Auf den Boden der allgegenwärtigen Gefahr zurück holt mich das Warnschild an einer modernen Rohrkonstruktion hinter einer Umzäunung. Auf Französisch wirkt der Text „une atmosphère explosive peut se présenter“ fast wie ein charmanter Sprachspaziergang, im Deutschen würde man wohl mindestens einmal „Achtung“ mit Ausrufezeichen schreien und grellfarbiges „Verboten“. Es könnte also zu Explosionen in der Luft kommen; die technische Zeichnung daneben zeigt, warum.

Warnschilder auf der Entgasungsanlage des Puits I.

Genau hier sausten früher die Kumpel im Puits I, dem Schacht I, in die Tiefe. Zunächst nur 150 Meter tief, später ins nächste Stockwerk. Etwa 425 km solcher Galerien sollen das Gebiet von Pechelbronn bis zu einer Tiefe von 400 m durchzogen haben. Die Extraktionsmethode in dieser Mine des frühen 20. Jhdts. war einzigartig: Kamen die Bohrtürme nicht vorwärts oder lohnte ihr Ausstoß nicht, gruben sich Menschen unter Tage über eine Rohöllinse tief unten im Erdreich und senkten vom Galerieboden alle zehn Meter Rohre mit Pumpen ab. Über für heutige Verhältnisse lächerlich dünn aussehende Pipelines wurde das Öl dann von oben hochgepumpt. Auf diese Weise ließ sich auch der weniger lohnende bitumenhaltige Sand abbauen, aus dem das Öl mit Hitze abgeschieden wurde.

Heute ist dieser Eingang, wie alle anderen auch, massiv mit Beton verschlossen, die Entgasungsanlage ist mit einer fernüberwachten piezoelektrischen Sonde versehen – was auch immer das für uns heißen mag, falls sich Minengase bilden sollten und nach oben strömen.

Die Entgasungsanlage von Puits I, im Hintergrund die Rückseite des Magazins, das eines Tages das neue Museum beherbergen könnte. Auf den breiten Sandwegen kann man sich gefahrlos bewegen.

Dass ich die Wege nicht verlassen darf, weil es hier explodieren und anderswo sich plötzlich das Terrain senken könnte, theoretisch die Erde alles verschlucken würde, erfüllt mich im Katastrophenjahr 2020 eher mit Sarkasmus. Wäre es nicht der krönende Abschluss nach all dem, wie wir die Erde trotz Wissens um die Klimakrise schinden, wenn die sich einfach kurz aufbäumen würde und uns Menschen mit einem Happs verschlänge? Was haben wir eigentlich aus der Vergangenheit gelernt?

Die Natur erobert die Ruinen

Da ist er wieder, der Zeitsprung im Kopf. Ich denke daran, wie zynisch meine Gedanken für die Menschen klänge, die einst an dieser Stelle ihre Kumpel verloren haben. Auf einem historischen Foto sah ich sogar ein Mädchen und mehrere Frauen, die unter der Erde schufteten. In Texten und Ausstellungen kommen sie viel zu selten vor. Es ist damals heiß unter Tage, bis zu 40 Grad. Die bitumenhaltige schwarze Schmiere, die sich auf die Haut legt, rubbeln sich die Kumpel vor dem Duschen mit Lampenöl oder destilliertem Petroleum ab, damit sie sich überhaupt löst.

Gründerzeiten: Der Erste Weltkrieg säuft Öl

Die Zeit der ersten Bohrung an diesem Platz war ein doppelt gefährliches Datum. 1916 haben sie am Puits I die unterirdischen Galerien in die Erde getrieben, zwei Meter breit und 2,50 m hoch. Seit zwei Jahren tobt der Erste Weltkrieg, dessen industrialisiertes Töten zum ersten Mal auch in großem Stil Erdöl verschlingt, die Ausbeutung der Ressourcen erst so richtig anheizt. 800 Arbeiter sind es 1917, 1920 schließlich 3000. Durch den Bedarf wiederum entsteht technischer Fortschritt: Die Erfahrungen in den Minen wachsen. Die Ironie der Geschichte dabei: Es ist die DEA, die Deutsche Erdöl Aktiengesellschaft, die in der von Paul de Chambrier angelegten Mine fördert, denn zu jener Zeit befindet sich das Elsass unter deutscher Besatzung. Der Treibstoff geht also ans Militär, das die eigenen Brüder und Schwestern tötet. Aber wer hier arbeitet, muss wenigstens nicht an die Front, kann als Arbeiterbauer zuhause die Felder bestellen – neben der Minenarbeit, versteht sich. Trotzdem ist die Schufterei in den unterirdischen Galerien lebensgefährlich.

Obwohl man die Gefahr von Grubengasen schon seit dem 17. Jhdt. untersuchte und 1815 die ersten Sicherheitslampen zur Verfügung standen, hat es die Kumpels von Pechelbronn an dieser Stelle doch erwischt. 1919 ist gerade der ganz große Weltenbrand erloschen, da schlagen in dieser Mine mehrere Feuer und eine Explosion zu. Es ist so schlimm, dass der Betrieb ein Jahr stillsteht. Was da hochkommt beim Ölbohren ist Methan. Vereinfacht gesagt, sammelt sich beim Abbau des Rohöls aus einer im Erdreich eingeschlossenen Linse das natürliche Methangas und steigt nach oben. Wie klimaschädlich das Gas ist, weiß man damals noch nicht, es tötet die Menschen direkt. Endlich werden in der Mine Clemenceau die Sicherheitsauflagen strenger. Puits IV., Schacht IV., wird als Entlüftungsschacht gebohrt.

Auf dem Minengelände herrscht eine eigenartig faszinierende Stimmung zwischen überbordendem Grün, sprechenden historischen Installationen und Vergänglichkeit. Erst auf den zweiten Blick geben die Ruinen ihre Geheimnisse preis. Die Menschen haben über 100 Jahre lang ihre Spuren hinterlassen.

„Es“ lebt da unten immer noch. Bis 1998 haben die Hightechinstrumente angezeigt, wie beide Bohrstellen miteinander in Verbindung standen. Seit zwanzig Jahren kommunizierten die beiden Bohrstellen nicht mehr miteinander, was auch immer das für uns bedeuten mag, die wir nun über ein Gelände spazieren, das in ungesicherten Bereichen absinken könnte. Ich habe das Gefühl, unter mir lauerten die Gedärme verschütteter Urzeittiere, als wir den eigentlichen „Lost Place“ betreten, jene faszinierende Ansammlung einsturzgefährdeter Ruinen. Von dort führt der Weg direkt auf die größte Abraumhalde, wo mich die Natur überraschen wird.

Die große Werkhalle mit Relikten aus 100 Jahren

Noch während ich mir die unterirdischen Galerien vorstelle, sind wir im Zentrum des Ruinenareals der alten Mine Clemenceau angekommen. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war sie angelegt worden, um Teersande zu fördern und die Rohöllinsen in der Erde von unterirdischen Stollen aus anzubohren. Jetzt stehe ich im ehemaligen Zentrum der Anlage. Schweiß und schwarz-schmieriger Dreck auf der Haut von bis zu 3000 Arbeitern. Lärm vom großen Förderturm und den pausenlos drehenden Turbinen. Dazu das Quietschen der Lorenräder, das Geräusch von stoßweise entweichendem Dampf. Das Räderwerk aus Maschinen und Menschen steht nie still, dreht sich in den kommenden Jahrzehnten immer schneller.

Es wird angetrieben von der Faszination des Machbaren, der neuen Wunderwelt der Technologie der 1910er Jahre, ihrer rasanten Weiterentwicklung. Wissenschaftler und Geologen sind neugierig mit den Schätzen beschäftigt, welche die Erde so großzügig spendet, denken an den möglichen Fortschritt. Aber in den Chefetagen herrscht in alter Traditionslinie des 19. Jhdts. und der Industrialisierung längst die Fokussierung auf das, was wir heute Ausbeutung nennen. Schon im Jahrhundert davor war es der Profit, der zu immer größeren Rekorden in der weltweiten Erdölindustrie antrieb. Im 20. Jhdt. wird gekämpft: Die beiden Weltkriege, einer barbarischer als der andere, dürsten nach fossilen Energien. Industrialisiertes Töten verlangt eine Industrie der Ressourcenausbeutung. Ohne Erdölprodukte und Benzin keine geschmierten Großwaffen, keine Fortbewegung von schwerem Kriegsgerät oder Armeen über riesige Entfernungen und damit auch kein Welten-Krieg.

Die Armeen fressen sich in dieser Zeit dank Erdöl in die entfernten Länder. Der Mensch macht sich die Erde als Rohstoff fürs Töten untertan, bis in ihre Eingeweide hinein. Wissenschaft, Errungenschaften, Segen bringende Erfindungen – sie sind in jenen Zeiten nur allzu oft eher Kollateralzufall der Kriege, weil eben die großen Geldmengen in kriegswichtige Unternehmungen gesteckt werden. Sicher, Lampenöl, Paraffine, Heizmaterialien und Benzin, das kommt auch dem Leben der Menschen zugute. Doch die Zwischenzeit im Frieden mit überquellendem Lebenshunger und modernem Autotourismus währt allzu kurz, das Elsass zerreisst es immer wieder schmerzhaft zwischen zwei Nationen.

Die elektrische Zentrale

Ein Geflecht des Lernens

Lost Place

Heute rauscht leise der Verkehr von der Straße her, irgendwo schwatzt fröhlich eine Gruppe Menschen, die zu einem Konzert auf dem Areal gekommen sind. Spatzen streiten sich lauthals im Gebüsch. Zu meiner Rechten ragt die backsteinrote elektrische Zentrale empor, in der einst die Turbinen stampften und Strom erzeugten. Zu meiner Linken nimmt mir die alte Hauptwerkhalle den Atem – eine lichtdurchflutete Kathedrale des Erdöls, ein Lost Place wie aus einem Traum.

Wie eine Kathedrale des Erdöls: Die große Werkhalle

Überbordende grüne Wildheit einer Natur, die mit Efeu Ruinen zerfrisst und hinwegwürgt, mit wildem Wein Fensterreste umschlingt, sich das Gelände zurückerobert, dass sich einst der Mensch von ihr abgetrotzt hat. Ein Platz wie ein Wirbel: Ein Müllberg von bis zur Unkenntlichkeit verrosteten Ölkanistern erstickt jegliche Vegetation, daneben musste mit dem Machetenmesser der Weg freigesenst werden. Brombeeren wachsen im immer noch teerhaltigen Sand, es wächst selbst in den „sterilen“ Sanden, wie der ausgekochte Abraum genannt wird – Sand, nichts als Sand, durch den Prozess zu seiner Zeit einer jeden Lebensform beraubt. Heute blüht dort gelb der Rainfarn. 100 Jahre nach den ersten Bohrungen.

Menschenspuren – Schrott

Ein Wirbel zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen menschlicher Zerstörung und einer Natur, die dem Menschen seine Winzigkeit lehrt. Zerschlagene Porzellanisolatoren, Kanister mit dem Logo von Erdölgesellschaften, herabstürzendes Dachwerk im Gras, all diese Menschenspuren der Vergangenheit erinnern wie ein roter Faden an die wichtigste Frage, immer wieder diese eine Frage: Wann hat das mit dem Anthropozän eigentlich angefangen? Wann kippte diese Spirale von der Faszination und Forschung in einen Wahn der Machbarkeit, Beherrschbarkeit? Wie kam die Gier dazu?

Robuste Pflanzen erobern das Ruinenfeld. Eines der häufigsten Gehölze hier ist die Gewöhnliche Robinie (Robinia pseudoacacia).

Vor mir auf dem Boden leuchtet goldgelb etwas kleines Rundes, das auf rostigem Müll kaum zu vermuten ist. Ich greife danach, werde mehrfach gestochen. Eine alte Bauersfrau hat mir einmal gesagt: „Auf gestörten Böden wirst du zuerst all das finden, was sich den Menschen vom Leib hält. Giftpflanzen, Stachelpflanzen!“ Ich werde auf dem Gelände noch viele dieser kleinen Schönheiten finden, vor allem auf dem Abraumberg, dem Terril I. Der sonnengetrocknete Blütenkopf von Carlina vulgaris, der stachelbewehrten Golddistel, deutet auf basischen, womöglich kalkhaltigen Boden. Diese kleine Schwester der Silberdistel ist winziger, aber nicht weniger schön, und sie birgt ungeahnte Kräfte.

Pioniere, die Extreme lieben

Sie zählt zu den sogenannten extremophilen Pionierpflanzen, die sich auf Abraumhalden spezialisiert haben. Wohlgemerkt, so ein Terril, ein Abraumberg, besteht aus dem Erdreich, das beim Bau der unterirdischen Galerien herausbefördert wurde; oft gibt es ölhaltige Schieferarten, zuletzt kommt viel Sand. Mancher Sand in der Mine Clemenceau enthält noch Bitumen, ein anderer Hügel wurde nach dem Auskochen des zähen Rohöls aufgeschüttet. Heute wächst hier die zweijährige Golddistel auch mitten im Metallmüll – wie der Efeu eine hervorragende Bienenweide.

Pflanzen im Ruinenbereich der elektrischen Zentrale.

So ein Terril, auch wenn man es gemeinhin nicht erwarten mag, entwickelt sich mit der Zeit zu einem völlig eigenen Biotop. Zuerst kommen die unverwüstlichsten Bakterien und Pilze, bereiten den robusteren Pionierpflanzen den Boden vor, schließen chemische Stoffe auf zu Nährstoffen. Das können manche Arten von ihnen so effektiv, dass man inzwischen weltweit daran forscht, wie man mithilfe von bestimmten Bakterien und Pilzen gegen Ölverschmutzungen ankämpfen kann oder alte Förderstätten renaturalisieren könnte. Ein spannendes Forschungsgebiet, denn die natürlichen Helfer lassen sich im Labor in Massen züchten. Und doch auch hier ein Eingreifen des Menschen, das gut bedacht sein will: Wie wirken diese Arten auf die natürlichen Mikroben, was passiert, wenn sie sich weiter verbreiten?

Die Golddistel ist eine typische Vertreterin solch extremophiler Pionierpflanzen. Sie will in Ruhe gelassen werden, mehrmaliges Mähen im Jahr vertreibt sie. Extreme Sonne und Trockenheit liebt sie, verträgt dabei weder Humus noch allzu viele Nährstoffe. Lehm darf sein, steinigen Boden nimmt die Golddistel gern und Bodenhitze steckt sie weg. Das ist besonders wichtig, weil sich manche Abraumhalden (vor allem im Kohlebergbau) durch chemische Prozesse immer wieder auch künstlich erwärmen könnten. Wo die Golddistel wächst, enthält der Boden keinerlei Salz – das würde sie töten.

Die Abraumhalde der Mine Clemenceau bietet ihr das ideale Umfeld: Nie wurden hier absichtlich Pflanzen kultiviert, wohl nie der Boden bewegt. Durch die konische Form erwärmt sich die Halde schnell durch Sonneneinstrahlung, bietet ein Mikroklima. Nie wurden in Abraumhalden Dünger ausgebracht, sehr lang hat der Mensch sie nach der Stilllegung nicht gestört. Oft sind sie abgesperrt. Samen verbreiten sich mit dem Wind, mit Wildtieren, und ab und zu auch Vieh. Vor Jahren noch wurden auf dem Gelände der Mine Clemenceau Pferde gehalten. Auch hier sorgen Mikroklima und das spezielle Umfeld dafür, dass sich die Vegetation von der in der Region unterscheidet. In ganz Frankreich findet man auf Abraumhalden eine sehr eigene Biodiversität und bis in den Norden Mittelmeerpflanzen. Es ist, als gingen diese auf Wanderschaft und Suche nach vertrauten Bedingungen.

Auf dem Abraumhügel herrschen Waldkiefern vor, manche sehr hoch.
Der Schatz im Boden: Mykorrhiza

Als wir auf den Hügel steigen, wähne ich mich tatsächlich ein wenig wie am Mittelmeer, ich denke spontan an den Bewuchs von Steinmauern in den südlicheren Vogesen. Der breite Weg windet sich durch einen lichtdurchlässigen Kiefernwald. Manche Waldkiefern (Pinus sylvestris) ragen hoch hinauf, aber die Stämme der meisten Bäume sind nicht besonders dick. In Baumlebenszeiten gemessen ist der Bewuchs auch noch nicht alt. Solange die Mine in Betrieb war, herrschte hier Ölöde.

Die Arten der wenigen Laubgehölze sind schwer auszumachen, im heißen Dürresommer haben viele die Blätter verloren oder eingerollt. Vogelkirschen (Prunus avium) im unteren Bereich sind mir vertraut von den Waldrändern der Region, ein paar junge Buchen überraschen mich mit ihrer Robustheit. Ob ein Baum vor mir tatsächlich eine Linde sein kann? Ich bräuchte ein Fernrohr. Die sichtbaren Blätter sind überraschend winzig, aber auch das ist typisch für jene nährstoffarmen Böden. Man kennt es von den Sandsteinfelsen in den Nordvogesen: Bäume wachsen dort so extrem langsam, dass man kaum glauben mag, wenn ein Winzling 100 Jahre alt sein kann. Unmöglich, nach reinem Augenschein abzuschätzen, wie alt die höchsten Kiefern hier sein mögen, man müsste akribisch die Astquirle zählen, einen für jedes Jahr.

In einem natürlichen Wald sorgen Kiefern in der Überzahl schon einmal für eine Versauerung der Böden. Auf diesem stark basischen Untergrund wirken sie eher ausgleichend und bereiten den Boden für empfindlichere Pflanzen vor. Ihre Nadeln schaffen Humus, falls das Bodenleben stimmt. Pinus sylvestris, die Waldkiefer, kommt im Biosphärenschutzgebiet Pfälzerwald – Nordvogesen an stark besonnten Trockenhängen vor, der Wind treibt ihre Samen weiter, Tiere sammeln und vergessen Zapfen. Sie wurzelt bis zu sechs Meter tief, ist dadurch recht dürrehart und sie ist ein typischer Lichtbaum. Fehlt es an Sonne, bildet sie fast nur einen Wipfel aus, die Seitentriebe bis nach unten fehlen dann. Waldkiefern zählen zu den bodentolerantesten Bäumen, in Tschernobyl haben sie sich durch Mutationen sogar an die erhöhte Radioaktivität angepasst.

Und da schlummert noch ein faszinierendes Geheimnis zu ihren Füßen: Waldkiefern bilden eine spezielle Symbiose mit unterirdischem Pilzgeflecht. Das machen die meisten Bäume und man nennt dieses Geflecht Mykorrhiza. Bekannt geworden ist die Mykorrhiza (altgr. mykes = Pilz, riza = Wurzel) gemeinhin auch als Wood Wide Web, denn es tauschen nicht nur Bäume und Pilze miteinander Nährstoffe aus, das Pilzgeflecht dient außerdem zur Kommunikation unter Bäumen.

Nun gibt es zwei Arten davon: Entweder die Pilzärmchen wachsen bis in die Zellen der Pflanzenpartner hinein (Endomykorrhiza von altgriech. endon = innen) – oder sie reichen nur bis in die Wurzelrinde (Ektomykorrhiza von altgriech. ekton = außen). Letzteres kommt am häufigsten bei Bäumen vor, bei der Waldkiefer eben auch. Wie aber muss man sich die biologischen Vorgänge im Boden der Abraumhalde nun vorstellen?

Der stark verkrümmte Wuchs vieler Bäume zeigt deutlich, dass dies kein normaler Waldboden ist. Trotzdem sorgen die großen Bäume für das Überleben der empfindlicheren Arten – dank der Mykorrhiza, einem unterirdischen Pilzgeflecht. Es hilft, den Boden aufzubereiten.

Die Wurzeln der Bäume – und hier spielt die Waldkiefer eine große Rolle – gehen mit einer Ektomykorrhiza eine Symbiose ein. Bei der Waldkiefer kennt man das z.B. mit Fliegelpilz (Amanita muscaria), Reizkerarten (Lactarius sect. Deliciosi) oder Butterpilz (Suillus luteus). Was wir gemeinhin als Pilz mit Hut kennen, sind nur die oberirdischen Fruchtkörper. Das eigentliche Lebewesen aber – denn dazu zählen Pilze mit ihren Eigenschaften zwischen Pflanze und Tier – lebt unsichtbar im Boden, breitet sich durch weiße Pilzfäden, die sogenannten Hyphen aus. Alle Hyphen zusammen bilden ein Myzel – das kennen wir als weiße Schicht auf dem Camembert.

So ein Myzel sucht sich nun Wurzeln von Bäumen, die noch weich sind. Dann wachsen die Hyphen, diese kleinen Pilzärmchen, in die Wurzelrinde. Die Waldkiefer lässt jetzt durch den Kontakt ihre Wurzelenden wie kleine Keulchen anschwellen und bildet keine Haarwurzeln mehr aus. Diese Arbeit übernimmt nämlich jetzt das Pilzmyzel! Der Pilz sucht für den Baum nach Nährstoffen und Wasser, eine überaus praktische Sache in sehr trockenen oder gestörten Böden: Er kann sich viel weiter und tiefer ausbreiten und ist damit beweglicher als der Baum. Und Wood Wide Web nennt man das auch darum, weil an so einem riesigen unterirdischen Pilzkörper viele Bäume hängen. Selbst wenn Bäume sterben, überlebt das Myzel.

Damit die Symbiose nicht gestört wird, wehrt der Pilz außerdem andere für den Baum schädliche Pilze und Bakterien ab. Der Baum, der derart gepäppelt wird, revanchiert sich mit Zucker – denn davon lebt wiederum der Pilz! Der Pilz braucht den Baum, denn er kann ja selbst keinen Zucker durch Fotosynthese herstellen. Eine perfekte Partnerschaft also, die Bäume und Pflanzen resistenter macht und den Boden durch die nützlichen Pilze verbessert.

Die Erforschung der Vorhänge in so einer Mykorrhiza sind noch in vollem Gange. Spannend ist dabei, dass es ihr – vor allem bei Waldkiefern – gelingt, Ammonium in den pflanzenwichtigen Stickstoff umzubauen, ein Element, das im Zusammenhang mit Erdöl durchaus vorkommen kann. Das ist wieder so ein Trick der Natur, unter unwirtlichsten Umständen zu überleben. Auf den Abraumhalden gibt es weder Humus noch nennenswertes Bodenleben, die sonst Pflanzen mit dem lebenswichtigen Stickstoff aus organischen Stoffen versorgen könnten. Pflanzen brauchen Stickstoff vor allem, um Eiweiße herzustellen, er fördert das Wachstum. Fehlt es an Stickstoff, bleiben die Pflanzen kümmerlich, vergilben und bilden Notblüten. Irgendwann welken sie, sterben ab.

Stärke der Natur, Engagement für nachhaltige Energien – eine Zukunft?

Das ist das Faszinierende an diesem Lost Place, dieser uralten Industriebrache:  Da lebt es mehr, als vermutet. Inzwischen hat man sogar lebende Bakterien in tief liegenden geothermalen Erdölschichten entdeckt. Unter unseren Füßen wird bereits der Abraumhügel fleißig umgebaut von einem Miteinander von Bakterien, Kleinstlebewesen, Pilzen und Pflanzen. Wir sehen nur eine Kiefer aus scheinbar sterilem Sandboden aufragen. Aber wenn man genauer hinschaut, kann man sehen, dass in so einem Baumverbund Kleinstpflanzen vom unterirdischen Umfeld profitieren und sich empfindlichere Bäumchen ansiedeln. Da lebt und wuselt es von innen – und von oben fallen Nadeln und Blätter, zerfallen ihrerseits wieder in organische Stoffe. Sobald es genug Bodenleben gibt, werden die in Humus umgebaut. Wenn es einmal so weit ist, werden die extremen Pionierpflanzen verschwinden, Platz machen für Pflanzen, die Humus benötigen.

Der Ausblick vom Abraumhügel Richtung Preuschdorf und den Vogesenwald.

Es gibt auf dem Minengelände nichts, was es nicht auch irgendwo in der Region geben würde und doch ist die Kombination der Pflanzenwelt eigen und aufschlussreich. Um die Ruinen herum wuchern die Waldrebe Clematis und die Gewöhnliche Jungfernrebe (Parthenocissus vitacea) auch über den Boden, beschatten ihn. Brombeeren und Brennnesseln sind typisch für Plätze, an denen früher Müll aufgeschichtet worden war oder die Pferde gehalten wurden. Leider sind kleinere Kräuter und Gräser nicht zu erkennen – sie sind allesamt von Hitze und Dürre verbrannt. Hartriegel lässt die Blätter hängen, ich erkenne einzelne Eschen im Mauerschatten und Pappeln. Oben im Wäldchen wachsen Ahornarten und auch da gibt es ein Bestimmungsproblem: Viele Laubbäume haben ihre Blätter bereits abgeworfen, um die Trockenheit zu überleben. Im späten Frühjahr dürfte eine Exkursion spannend werden!

Blick vom heutigen Veranstaltungsgelände nach unten auf die Ruinen.

Die Industriebrache ist ein Lehrstück, wie der Mensch über sich hinauswachsen kann, zu welchen Erfindungen und Forschungen, Arbeiten und Entwicklungen Frauen und Männer fähig sind. Sie kann aber auch bei genauem Hinschauen lehren, dass die Gattung Homo sapiens nur ein kleines Lebewesen in der Natur ist, das sich viel zu oft in Hybris und Gier aufgeblasen hat – ohne Rücksicht auf Verluste. Früher geschah das ohne unser heutiges Wissen, was genau man damit anrichtet. Und doch waren die Folgen von Gier bekannt. Wir sind heute ungleich klüger, informierter – und auch das ist ein Fortschritt: Wir sind lernfähig. Die Natur braucht uns nicht, das erkennt man zwischen diesen Ruinen – wir aber brauchen die Natur!

Wie wir zu einer neuen Gegenseitigkeit mit der Natur kommen könnten, lehren uns nicht nur zerbrechliche Pilzärmchen im Innern von Abraum. Es ist unsere eigene Geschichte, sofern wir sie nicht mit verklärtem Blick betrachten. Sie kann uns ein neues Verständnis von Energien und umweltbewusstem Energieverbrauch zeigen.

Auch deshalb ist dieses Gelände vielversprechend. Es gibt seit zwei Jahren ein äußerst ambitioniertes Projekt mit dem provisorischen Namen „Cité des Énergies“ (Viertel / Siedlung der Energien). Über mehrere Jahre hinweg soll in diesem Viertel das französische Erdölmuseum neu, modern und vor allem größer untergebracht werden. Das Minengelände soll dabei zu einer Art Freilichtmuseum werden, eines Tages sogar die gesammelten Großgeräte wie Ölpumpen beherbergen. Vor allem aber will man an dieser Stelle zum wertvollen Kulturerbe von Pechelbronn das Wissen um erneuerbare Energien einbinden, einen vom Naturpark Nordvogesen errichteten Experimental-Gebäudekomplex aus heimischem Holz einbeziehen. Schon heute gibt es dort Veranstaltungen in Zusammenarbeit mit dem Erdölmuseum.

Das Areal der Mine Clemenceau könnte bei ausreichender Finanzierung einmal zu einem Ort werden, wo sich die heimische Bevölkerung, Unternehmen und Universitäten, Tourist:innen und Animateur:innen treffen, um sich über Themen auszutauschen, die hier weit in die Vergangenheit reichen und die doch unser Überleben in einer Zukunft der Klimakrise bestimmen werden. Wenn es gelingt, sichtbar zu machen, welche Geschichten in dieser Erde von Pechelbronn schlummern (mit der Tiefengeothermie in der Nachbarschaft), könnten wir vieles besser verstehen, wofür der Begriff Anthropozän steht. Wir könnten im lebendigen Austausch lernen, warum wir dort gelandet sind, wo wir stehen – und wie wir künftig mit dem Planeten umgehen möchten.

Der Text hat gefallen? Ich habe eine Kaffeekasse!

Mehr über Erdöl gibt es in meinem Buch über das Elsass – darin erzähle ich u. a. die Geschichte der Gebrüder Schlumberger mit ihrer bahnbrechenden Erfindung der geoelektrischen Vermessung der Erde.

Text: (C) Petra van Cronenburg, alle Rechte vorbehalten. Alle Fotos (C) Petra van Cronenburg, Veröffentlichung mit freundl. Genehmigung der ComCom Sauer-Pechelbronn.

Ich danke herzlich Sonja Fath von der ComCom Sauer-Pechelbronn für die spannende Führung und die Genehmigung, hier meine Fotos zu zeigen – und den MitarbeiterInnen des Erdölmuseums Pechelbronn für die Zusammenarbeit bei jahrelangen Recherchen zum Thema Erdöl, vor allem Daniel Rodier und Pascale Roll-Schneider.